1. Freimaurerische Reformation1
Als Freimaurerische Reformation wird die Zeit nach dem Wilhelmsbadener Kongress2 (1782) bezeichnet, auf dem der Spuk der Strikten Observanz (nomen est omen) sein Ende fand und die deutsche Freimaurerei einen Neuanfang zu schaffen versuchte. Sie war nach dem Kongress in eine tiefe Enttäuschung und Orientierungslosigkeit, ja sogar Lähmung gefallen. Die Hochgradmaurerei hatte man vielerorts gründlich satt, nicht zuletzt, weil man diese Fluchtburgen des Adels vor dem in die Freimaurerei drängenden Bürgertum als unfreimaurerisch empfand, und den Geist der französischen Revolution im profanen Leben spürte, um ihn dann in den Logen um so mehr zu vermissen.
Es dauerte noch bis zur Jahrhundertwende, bis die Reformation abgeschlossen war (Friedrich Ludwig Schröder in Hamburg, Ignaz Aurelius Feßler in Berlin) und wieder einigermaßen stabile Verhältnisse herrschten (Verfassungsrevision der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“, Edikt von 1798 in Preußen).
In Frankfurt am Main bestand als eine der frühen Logengründungen in Deutschland seit 1742 die „Loge zur Einigkeit“. 1766 hatte sie von der Englischen Großloge ein Patent als Provincialloge erhalten und Tochterlogen gestiftet. In der Folgezeit, in der das Hochgradsystem der Strikten Observanz enormen Einfluss auf die deutsche Freimaurerei gewonnen hatte, waren Loge und Provincialloge ihrer Freimaurerei, der englischen, ‚Moderns‘-genannten Lehrart, trotz heftiger Avancen und dem Abfall der Tochterlogen, treu geblieben. Nach einer erforderlichen Neuwahl des Provincial-Großmeisters hatte aber die Großloge von England dessen Bestätigung verweigert und an die Berliner Große Landesloge verwiesen, die durch ein zwischenzeitliches Abkommen (1773) für den ganzen deutschen Raum zuständig sei. Daraufhin hatte man sich 1782 von der Englischen Großloge losgesagt und unter dem Namen „Provinzialloge zu Frankfurt am Main“ für selbständig erklärt.
Auf dem Wilhelmsbadener Kongress hatte sich Franz Dietrich von Ditfurth, Schottischer Obermeister der Wetzlarer Schottischen Direktoralloge „Joseph zum Reichsadler“, kritisch hervorgetan. Enttäuscht über den unbefriedigenden Verlauf des Kongresses setzte er einen länger gehegten Plan um, die Freimaurerei zur Umkehr bzw. Rückkehr auf ihre Basiswerte zu bringen. Er tat sich mit Johann Karl Brönner von dieser neu gegründeten Provinzialloge in der freien Reichsstadt Frankfurt und mit dem dort weilenden Freiherr von Knigge zusammen, und diese drei verschickten 1783 ein Zirkular an die deutschen und an etliche ausländische Logen, welches unglaubliche Resonanz fand. Dieses Rundschreiben (später als Eklektische Bundesurkunde oder Stiftungsbrief bezeichnet) rief zur Rückkehr zur ursprünglichen Art der Maurerei der drei symbolischen Grade auf; zeigte aber gleich eine weitreichende maurerische Toleranz, indem jeder beitretenden Loge überlassen sein solle, höhere Grade beizubehalten oder einzuführen; in Hochachtung der ‚Alten Pflichten‘ wolle man aus allen Systemen das Beste und Überzeugendste herausnehmen und zurückkehren zur alten Einfachheit der ursprünglichen Rituale; keine der verbundenen Logen solle von einer anderen abhängen – auch nicht finanziell -, alle seien gleich und eigenständig. Die beiden Provinziallogen (Frankfurt und Wetzlar) hätten sich zusammengeschlossen und wären bereit, das Logenbündnis zu führen und den freundschaftlichen Schriftverkehr aller untereinander zu koordinieren.
Das war etwas gänzlich Neues, ja Revolutionäres und völlig Gegensätzliches zur Strikten Observanz. Durch einen Bund-Charakter des freiwilligen Zusammenschlusses unter zwei verbundenen, lediglich koordinierenden Provinziallogen würden die Mitgliedslogen völlige Autonomie und Selbstbestimmung behalten, vorausgesetzt, sie stimmten mit den erklärten Zielen des Bundes überein. Da gab es keine anordnenden und befehlenden Oberen, Obersten oder gar Geheime Obere; die Mitgliedslogen sollten – symbolisch gesprochen – mütterlich (der Name Große Mutterloge wurde später angenommen) ver- und umsorgt werden.
Das war so begeisternd, dass im gleichen Jahr noch (1783) 56 Logen aus dem In- und Ausland ihr Interesse an einer Aufnahme in den Eklektischen Bund (wie er bald genannt wurde) gemeldet hatten. Sofort waren Rituale ausgearbeitet worden, hauptsächlich basierend auf denen der Loge zur Einigkeit, mit einem nie so recht geklärten Einfluss von Knigges. Mit von Ditfurth war man übereingekommen, Aufzunehmende zu fragen, ob sie der christlichen Religion zugetan seien, seinen Wunsch nach Einführung eines 4. Grades hatte man ausgeschlagen. In den Folgejahren zog sich von Ditfurth aber – und damit die Wetzlarer Direktoralloge – immer mehr zurück, so dass letztlich dem Eklektischen Bund 1788 ein von der Frankfurter Provinzialloge allein erarbeitetes Gesetzeswerk nachgereicht wurde, welches in Gänze ihr angepasstes eigenes war.
Im nächsten Jahr (1789) schloss die Provinzialloge zu Frankfurt am Main wieder einen Vertrag mit der Englischen Großloge, welcher sie zur Großen Provincial- und Directorialloge machte, was etliche der 29 Logen, die jetzt dem Eklektischen Bund angehörten, sehr beunruhigte.
Zusammenfassung der freimaurerischen Reformation
In freimaurerischen Lexika wird in Abhandlungen über die Freimaurerei in Deutschland gesagt, dass die Gründung des Eklektischen Bundes 1783 für die deutsche Freimaurerei der erste wahrhaft reformatorische Schritt von dauerndem Erfolg war, der die Reformationsbewegung einleitete und die Befreiung der Freimaurerei von der Ordenshierarchie und der Erdrückung durch die Hochgrade brachte.3
Außerdem wird die Abnabelung von der Englischen Großloge als sehr wesentlich erachtet, und hiermit machte die Provinzialloge zu Frankfurt am Main, durch die Lossagung von England und der Beanspruchung der eigenen Selbständigkeit 1782-83 den Anfang.4
Dies veranlasst zu einer ersten Aussage:
Die Frankfurter Freimaurerei war durch ihre initiatorische Rolle in der freimaurerischen Reformationsbewegung, sowie durch ihre Verselbständigung von der Englischen Großloge, durch Gründung des Eklektischen Bundes in doppelter Hinsicht richtungweisend und hat die deutsche Freimaurerei ganz entscheidend beeinflusst.
1 Internationales Freimaurer Lexikon von Lennhoff, Posner u. Binder von 2003, „Reformbestrebungen“, ab Seite 694: Die größte Reform der deutschen Freimaurerei bedeutet die – mittelbar von den freimaurerischen Klassikern vorbereitete – Abkehr von den Verirrungen des 18. Jahrhunderts, von der Strikten Observanz und anderen Systemen, das Wiedereinschwenken zur ursprünglichen reinen Form der Freimaurerei unter gleichzeitiger Vergeistigung der Lehre und Vertiefung des humanitären Inhalts auf Grund historischer Forschung und philosophischer Deutung der Symbolik und Ritualistik. Die Freimaurerei in ihrer »verbesserten und auf ihre Lauterkeit und Einfachheit zurückgeführten Verfassung« nannte Wieland das Ergebnis des Reformwerks in seinem Aufnahmegesuch. Das »eklektische Rundschreiben«, die Tätigkeit Schröders (s.d.) und Feßlers (s.d.) sind als Marksteine der Reformbewegung zu Ende des 18. Jahrhunderts besonders zu erwähnen.
2 Deutsches Freimaurer-Lexikon von Reinhold Dorsch: „Strikte Observanz“ (Seite 272). Konvent von Wilhelmsbad (1782). Er war sechs Jahre nach dem Tod von Hunds einberufen worden und bedeutete praktisch die Auflösung der Strikten Observanz. Zwar versuchte der Herzog Ferdinand von Braunschweig neue Grundsätze aufzustellen und Reformen durchzuführen, aber konnte sich gegen die aufmüpfigen Logen nicht durchsetzen. Die Probleme wurden vielen Ausschüssen übertragen, die 50 Tage diskutierten. Die entscheidende Frage, ob die Freimaurerei vorn Tempelberren‑Orden abstammt, wurde verneint, allerdings eine „gewisse Beziehung und Analogie“ festgestellt. Die Legende von den „unbekannten Oberen“ wurde zerstört. Nur wenige Logen blieben bei der Strikten Observanz. Diese nur wenige Jahrzehnte dauernde Abirrung hat viel Verwirrung und Unsicherheit in die Freimaurerei getragen und ihr manchen Schaden zugefügt (Unbedingter Gehorsam! Geheime Obere! Ausuferndes Hochgradsystem! Prunk und Glanz!). Die 3 WK arbeitet diese zeitweilige Fehlentwicklung ihrer Lehrart zur glanzvollen Tempelritterschaft der Strikten Observanz in einer ihrer Erkenntnisstufen als warnendes Beispiel auf.
3 Allgemeines Handbuch (Encyklopädie) der Freimaurerei von Lenning (1900),1.Band: „Deutschland“ auf Seite 193: Sie erliess 1783 mit der Provinzialloge in Wetzlar vereint ein Rundschreiben, in dem sie zur Gründung des noch jetzt bestehenden Eklektischen Bundes (s. Frankfurt a.M.) aufforderte; das Verdienst, diesen ersten wahrhaft reformatorischen Schritt von dauerndem Erfolg gethan zu haben, kam hauptsächlich dem an der Spitze der Loge in Wetzlar stehenden v.Ditfurth zu. Bis Ende 1783 nahmen 24 Logen an dieser Verbindung teil, welche die drei Johannisgrade und die altenglischen Rituale annahmen, ohne jedoch die höhern Grade ganz auszuschliessen. Trafen nun diesen Bund auch mannigfache Angriffe und Hindernisse, so bewirkte doch sein Auftreten, eine in demselben Jahre von der Grossen National Mutterloge Zu den drei Weltkugeln ergangene Deklaration, worin sie sich ganz von der strikten Observanz lossagte, völlige Unabhängigkeit in Anspruch nahm und gegenseitige Duldung erklärte, nicht minder die in Hannover und Hamburg (1786) erfolgte Wiederherstellung der Verbindung mit der englischen Grossloge, die auch Frankfurt 1788 wieder aufnahm, eine durchgreifende Befreiung der deutschen Logen von den bisherigen Fesseln der Ordenshierarchie und dem Druck der Hochgrade.
4 Internationales Freimaurer Lexikon von Lennhoff, Posner u. Binder von 2003, „Deutschland“, auf Seite 220: Sehr wesentlich war auch, daß die deutsche Freimaurerei nunmehr daranging, ihre Selbständigkeit zu erobern. Den Anfang machte der Eklektische Bund, der mit der am 18./21. März 1783 verfaßten und genehmigten Bundesurkunde den Grund zur eigenen Großlogenselbständigkeit legte. 1783 hatte sich auch die Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ selbständig erklärt. Am 4. Februar 1811 sagte sich auch die Provinzial-Großloge von Hamburg und Niedersachsen von der englischen Großloge los und wurde die Großloge von Hamburg. Ihr folgte die Große Landesloge von Sachsen (28. September 1811) und die Großloge „Zur Sonne“ in Bayreuth (11. Dezember 1811), so daß die Aufteilung der deutschen Großlogen bereits ungefähr den Verteilungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprach.